Möglichkeiten, Ansatzpunkte und Grenzen einer Verwaltungsvereinfachung der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU
DOI:
https://doi.org/10.12767/buel.v97i2.246Abstract
Zu kaum einer anderen Forderung zur Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) besteht seit den 1990er Jahren ein derart breiter Konsens zwischen den Beteiligten wie bei der nach einer Verwaltungsvereinfachung der GAP. Eine Vereinfachung ist dringend geboten, und zwar für beide Säulen der GAP und für alle Akteursebenen (EU, Mitgliedstaat, d. h. in Deutschland: Bund und Bundesländer, Zuwendungsempfänger). Vor dem Hintergrund der anstehenden Reform der GAP für die Zeit nach 2020 diskutiert der Beirat in der vorliegenden Stellungnahme Möglichkeiten, Ansatzpunkte und Grenzen einer Verwaltungsvereinfachung. Die Stellungnahme vertieft damit die in der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats „Für eine gemeinwohlorientierte Gemeinsame Agrarpolitik der EU nach 2020: Grundsatzfragen und Empfehlungen“ ausgesprochene Empfehlung „Verwaltungsbelastung auf ein angemessenes Maß reduzieren“ (WBAE 2018: 71).
Verwaltungsvereinfachung ist kein Selbstzweck. Sie muss die rechtsstaatlichen Vorgaben der Legitimität des Verwaltungshandelns und des demokratisch gebotenen Schutzes der finanziellen Interessen der EU und des jeweiligen Mitgliedstaates beachten. Sinnvoll durchgeführt erfolgt eine Verwaltungsvereinfachung so, dass die mit den GAP-Maßnahmen zu erreichenden Ziele hierunter nicht leiden und eine sachgemäße Verwendung der öffentlichen Mittel sichergestellt ist. Darüber hinaus sollen Misstrauen und Angst der umsetzenden Behörden in den Mitgliedstaaten vor dem Anlastungsrisiko reduziert und dadurch Gestaltungsspielraum wiedergewonnen werden.
Adressaten der Forderung nach Verwaltungsvereinfachung sind die Prozessgestalter, in der Regel also die Gesetzgeber und die Verwaltungen auf europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene. In Deutschland kommen noch die Bundesländer hinzu.
Die Gründe für die administrative Komplexität der GAP sind vielfältig und weitgehend Folge einer Grundstruktur der GAP und der Verwaltungskontrolle, die in den 1960er und 1970er Jahren angelegt wurde und sodann kumulativ gewachsen ist. Ein Teil der Verwaltungsbelastungen ist auf den EU-Rechtsrahmen zurückzuführen, ein anderer Teil auf die konkrete Umsetzung in Deutschland.
Die gegenwärtige GAP verfolgt durch ein sehr differenziertes Instrumentarium eine Vielzahl von Zielen, die im Wege des indirekten Vollzugs und der Verwaltungskooperation von der EU und den Mitgliedstaaten gemeinsam umgesetzt werden. Sie ist daher notwendigerweise normativ und prozedural komplex und aufwendig. Über diesen notwendigen Grad an Komplexität und Verwaltungsaufwand hinaus ist die GAP durch Strukturen überlagert worden, die bei allen Akteuren zu Recht den Ruf nach einer Vereinfachung ausgelöst haben. Dieses ist wesentlich verursacht durch die unübersichtliche und sich mit jeder neuen Förderperiode grundsätzlich ändernde EU-Rechtslage – die zudem während der Förderperiode weiter verändert wird – und eine unangemessen strenge Auffassung des EU-Parlamentes und des EU-Rechnungshofes über die ordnungsgemäße Mittelverwendung (maximal tolerierte Fehlerquote von 2 %). Diese strenge Handhabung der Haushaltsdisziplin hat ein umfassendes, redundantes Kontrollsystem mit unverhältnismäßigen Sanktionen zu Lasten der Mitgliedstaaten (Anlastungsrisiko) und der Zuwendungsempfänger zur Folge.
Die Verordnungsentwürfe der EU-Kommission für die GAP nach 2020 haben das Potenzial, einen Paradigmenwechsel der GAP herbeizuführen. Das „neue Umsetzungsmodell“ soll die Governance-Struktur der GAP grundlegend ändern. Ob die Legislativvorschläge zu einer Verwaltungs-vereinfachung führen würden, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur bedingt einschätzen. Der Beirat ist aber skeptisch, ob die auf ersten Blick den Mitgliedstaaten eingeräumten Freiräume bei der konkreten Umsetzung fortbestehen werden. Der Beirat befürchtet, dass das neue Umsetzungsmodell ohne grundlegende Veränderungen nur zu einer Verlagerung der Verwaltungslast von der EU auf die Mitgliedstaaten führen wird.
Der Beirat spricht die folgenden Empfehlungen aus, um die Verwaltungsbelastung auf ein angemessenes Maß zu reduzieren:
1. Derzeitige Misstrauenskultur langfristig durch eine gemeinsame Verwaltungskultur von EU und Mitgliedstaaten ersetzen: Die Verwaltungskooperation zwischen EU und Mitgliedstaaten setzt grundsätzlich eine gemeinsame Verwaltungskultur der Beteiligten voraus. Nur dann ist eine Reduktion der bestehenden Komplexität der Kontrollinstrumente möglich. Das Sanktionssystem sollte durchweg nach der Schwere (Dauer und Ausmaß) und Intentionalität (Vorsatz versus Fahrlässigkeit) des Verstoßes abgestuft werden.
2. Allgemeine Verfahrensbestimmungen der GAP entfristen: Die Schaffung von über die Förderperiode fortwirkenden Verfahrensbestimmungen zur GAP befördert die Entwicklung einer Verwaltungs-, Gerichts- und Wissenschaftspraxis, erhöht damit die Rechtssicherheit und vereinfacht dadurch die bestehenden Verfahren.
3. EU‐Durchführungsbestimmungen zur GAP reduzieren, kodifizieren und rechtzeitig vorlegen: Eine Reduzierung der Durchführungsbestimmungen auf ein erforderliches EU‐Mindestmaß und eine systematische Zusammenfassung der für die gesamte GAP geltenden europäischen Durchführungsbestimmungen in ein einheitliches Gesetzeswerk würden zur Herausbildung einer Verwaltungs‐, Gerichts- und Wissenschaftspraxis und damit zu mehr Handlungssicherheit führen. Sämtliche Rechtsbestimmungen sollten rechtzeitig vor Beginn einer neuen Förder-periode vorliegen.
4. EU-Recht national nur in begründeten Fällen verwaltungsaufwendiger umsetzen: Die nationale finanztechnische Umsetzung einschließlich der Kontrolle sollte möglichst nicht verwaltungs-aufwendiger erfolgen, als es das EU-Recht vorgibt. Wenn der Bund oder die Bundesländer Fördermaßnahmen anspruchsvoller programmieren wollen, um eine höhere Zielgenauigkeit und -erreichung zu realisieren, ist abzuwägen, inwieweit dies einen höheren Verwaltungsaufwand rechtfertigt.
5. Leistungsabschlüsse und -überprüfungen anhand geeigneter Indikatoren vornehmen statt Regelkonformität der Ausgaben nachzuweisen: Die Mitgliedstaaten sollten der EU nicht mehr die Regelkonformität der Ausgaben nachweisen, sondern Leistungsabschlüsse und -überprü-fungen auf der Grundlage geeigneter Indikatoren einreichen müssen. Sollte die EU an dem Nachweis der Regelkonformität der Ausgaben festhalten, sollte die zulässige Fehlerquote von derzeit 2 % angemessen erhöht werden.
6. Mitgliedstaatliche Verwaltungskosten berücksichtigen und reduzieren: Die EU sollte bei der Prüfung der Effizienz der Kontrollinstrumente überschlägig die Kontroll- und Sanktionskosten der mitgliedstaatlichen Verwaltungen einbeziehen. Bund und Bundesländer sollten die bestehenden nationalen Vorgaben an das agrarspezifische Verwaltungsverfahren, aber auch die allgemeinen Vorgaben des Zuwendungsrechts und der Haushaltsordnungen auf ihre Erforder-lichkeit überprüfen und insbesondere Redundanzen bei den Kontrollen vermeiden.
7. Single-Audit-System einführen: Im organisationsrechtlichen Sinne sollte ein Single‐Audit‐System zur Verwaltungsvereinfachung eingeführt werden. Die damit einhergehende Reduktion der Kontrolldichte ist auch ohne wesentliche Einschränkung der Grundsätze der Haushaltsdisziplin der EU realistisch und innerhalb der verfassungsrechtlich definierten Grenzen möglich.
8. Durch angemessene Bagatellgrenzen Verwaltungsaufwand reduzieren: Geringfügige Rechts-verstöße, die nur eine vergleichsweise geringe Finanzwirkung haben, und geringfügige Flächen-abweichungen sollten als Bagatellverstöße gewertet werden. Die Festsetzung der Bagatell-grenzen bzw. der unbeachtlichen Abweichungen sollte den Mitgliedstaaten innerhalb eines europaweit festgesetzten Rahmens überlassen werden.
9. Digitale Technologien verstärkt nutzen: Insbesondere für flächenbezogene Maßnahmen sollten bestehende Daten wie auch digitale Technologien stärker als bisher als Grundlage für die Maßnahmengestaltung, -beantragung, -bescheidung und -kontrolle verwendet werden.
10. Vertrauensgrundsatz im Vergleich zum Gesetzmäßigkeitsprinzip aufwerten: Die bisherige Nachrangigkeit des Vertrauensgrundsatzes im Verhältnis zum Gesetzmäßigkeitsprinzip sollte durch einen abgewogenen Ausgleich zwischen beiden Grundsätzen modifiziert werden.
Die in Kürze auf EU-Ebene anstehenden Entscheidungen zur GAP nach 2020 und deren Umsetzung in Deutschland sollten als Chance genutzt werden, die Verwaltungsbelastung durch die GAP auf ein angemessenes Maß zu reduzieren. Hierfür ist aber mehr notwendig als nur eine ausschließlich auf die GAP ausgerichtete Reform, die an einzelnen Symptomen der Verwaltungskomplexität ansetzt.
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