Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsbedingungen gestalten.

Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) beim BMEL - Juni 2020

Autor/innen

  • Achim Spiller
  • Britta Renner
  • Lieske Voget-Kleschin
  • Ulrike Arens-Azevedo
  • Alfons Balmann
  • Hans Konrad Biesalski
  • Regina Birner
  • Wolfgang Bokelmann
  • Olaf Christen†
  • Matthias Gauly
  • Harald Grethe
  • Uwe Latacz-Lohmann
  • José Martínez
  • Hiltrud Nieberg
  • Monika Pischetsrieder
  • Matin Qaim
  • Julia C. Schmid
  • Friedhelm Taube
  • Peter Weingarten

DOI:

https://doi.org/10.12767/buel.vi230.308

Abstract

Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, beeinflusst wesentlich unseren individuellen Gesundheitsstatus, unsere Lebensqualität und unser Wohlbefinden. Viele Lebensmittel tragen einen großen sozialen, umwelt-, klima- und tierschutzbezogenen Fußabdruck. Politik für nachhaltigere Ernährung ist in diesem Gutachten definiert als eine Politik, die alle vier Zieldimensionen integriert: Gesundheit, Soziales, Umwelt (einschließlich Klima) und Tierwohl (Abb. ZF-1, siehe Beitrag). Die Herausforderungen, eine nachhaltigere Ernährung zu verwirklichen, sind groß. Die notwendigen Fortschritte werden nur mit einer umfassenden Transformation des heutigen Ernährungssystems erreichbar sein.
Die Frage, was eine nachhaltigere Ernährung ausmacht, ist schwieriger zu beantworten, als in der Öffentlichkeit vielfach vermutet wird. Gleichzeitig sind wir als Konsumentinnen und Konsumenten mit Ernährungsumgebungen konfrontiert, die ein nachhaltigeres Einkaufen und Essen erschweren. Vor diesem Hintergrund empfiehlt der WBAE, Verbraucherinnen und Verbraucher durch die Gestaltung angemessener Ernährungsumgebungen bei der Realisierung einer nachhaltigeren Ernährung deutlich stärker als bisher zu unterstützen. Dazu gilt es erstens, solche Faktoren in den heute vorherrschenden Ernährungsumgebungen, die eine nachhaltigere Ernährung erschweren (z. B. große Portionsgrößen, hohe Werbeausgaben für ungesunde Lebensmittel), zu reduzieren. Dazu gilt es zweitens, mehr gesundheitsfördernde, sozial-, umwelt- und tierwohlverträgliche Wahlmöglichkeiten zu bieten, ein Erkennen nachhaltigerer Varianten zu erleichtern, einen einfacheren Zugang zu Informationen zu ermöglichen und Preisanreize zu setzen, die es naheliegender machen, die nachhaltigere Wahl zu treffen.
Der WBAE bezeichnet solche Ernährungsumgebungen als fair, weil und insofern sie (1) auf unsere menschlichen Wahrnehmungs- und Entscheidungsmöglichkeiten sowie Verhaltensweisen abgestimmt sind und (2) gesundheitsfördernder, sozial-, umwelt- und tierwohlverträglicher sind und damit zur Erhaltung der Lebensgrundlagen heutiger und zukünftig lebender Menschen beitragen.
Bestehende Rahmenbedingungen sind in Deutschland wenig hilfreich, die Verantwortung wird zu stark auf das Individuum verlagert, und viele verfügbare Unterstützungsinstrumente werden nicht genutzt. Deutschland ist, wie in diesem Gutachten aufgezeigt wird, in dieser Hinsicht im europäischen Vergleich Nachzügler. Der Verweis auf die Notwendigkeit von fairen Ernährungsumgebungen impliziert, dass eine Politik für nachhaltigere Ernährung in Deutschland deutlich mehr und eingriffstiefere Instrumente wie beispielsweise Lenkungssteuern heranzieht. Mit dem vorliegenden Gutachten legt der WBAE Empfehlungen für wichtige Schritte hin zu fairen Ernährungsumgebungen vor. Ein zentraler Ansatzpunkt ist eine qualitativ hochwertige und beitragsfreie Kita- und Schulverpflegung.
Der WBAE empfiehlt eine umfassende Neuausrichtung und Stärkung des Politikfeldes Ernährung, das die vier Nachhaltigkeitsdimensionen Gesundheit, Soziales, Umwelt und Tierwohl integriert. Es bedarf eines lernenden Politikansatzes, basierend auf langfristigen, überprüfbaren Zielen. Der notwendige Instrumentenmix sollte konsequent erprobt, evaluiert und evidenzbasiert angepasst werden. Dies erfordert eine stärkere Vernetzung zwischen den Ressorts (insbesondere Ernährung und Landwirtschaft, Gesundheit, Umwelt) und zwischen den verschiedenen Politikebenen (von der Kommune bis zur EU) sowie den Ausbau personeller Kapazitäten mit deutlichen Budgeterhöhungen für die Ernährungspolitik.
Die vorgeschlagene integrierte Ernährungspolitik mit aufeinander abgestimmten, zum Teil deutlich eingriffstieferen Maßnahmen als bisher (Abb. ZF-2: Zentrale Politikempfehlungen des Gutachtens, siehe Beitrag) stellt einen wichtigen und notwendigen Schritt dar, um unsere Gesundheit, unsere Umwelt und unser Klima zu schützen, Ernährungsarmut zurückzudrängen, soziale Mindeststandards einzuhalten und das Tierwohl zu erhöhen. Faire Ernährungsumgebungen schützen uns alle und nützen uns allen. Die Realisierung der empfohlenen Maßnahmen erfordert erhebliche staatliche Mehrausgaben. Im Verhältnis zu den derzeitigen und zukünftig zu erwartenden hohen gesellschaftlichen und individuellen (Folge)Kosten unserer gegenwärtigen Ernährung stellen diese Mehrausgaben jedoch eine gesamtgesellschaftlich gebotene Investition dar. Eine zeitliche Verschiebung der erforderlichen Neuausrichtung würde sowohl die zu adressierenden Problemlagen als auch den erforderlichen Anpassungsbedarf verschärfen. Die in diesem Gutachten vorgelegte Analyse zeigt:

Eine umfassende Transformation des Ernährungssystems ist sinnvoll, sie ist möglich und sie sollte umgehend begonnen werden.

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Veröffentlicht

2020-08-25

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